Erinnerungen an die letzten Kriegstage

Ich möchte vorausschicken, dass April und Mai 1945 warme und sonnige Monate waren. An­fang April hörten wir schon vom Westen den Geschützdonner der näherkommenden Front.

 

In den letzten Märznächten warf ein englischer Bomber eine Luftmine in die östlich von unserem Hause gelegene Thierichsche  Kiesgrube. Alle Dächer, Fenster, Tore und ein Teil der

Türen waren kaputt. Durch den Einsatz der „Technischen Nothilfe“ waren die größten Schäden in wenigen Tagen beseitigt.

Als in den ersten Aprilnächten Potsdam angegriffen wurde konnten wir von hier aus über 100 Leuchtbomben zählen. Es war hier noch so hell, daß man in der Zeitung groß gedrucktes lesen konnte.

Mein Freund Heinz Lehmann, Luftwaffenhelfer bei einer Flakeinheit in Westfalen, war zu dieser Zeit gerade auf Urlaub. Als der Urlaub zu Ende war, konnte er nicht zu seiner Einheit zurück. Diese war schon längst von den Amis überrollt worden. Er wurde deshalb der Friedrichstädter Volkssturmkompanie zugeteilt.

 

Da ich nicht zu Hause bleiben wollte, schloss ich mich ebenfalls dieser Kompanie an. Es wa­ren fast alles ältere Männer ums Rentenalter. Die Kompanie war im Keller des Verwaltungs­gebäudes des Aradowerkes, dem jetzigen Finanzamt, untergebracht.

Unser Kompaniechef war der Reserveoffizier und mein langjähriger Lehrer an der Elster­vor­stadtschule Oblt. Tamm. Wir waren etwa 20 Volkssturmmänner.

Uniformen hatte man für uns nicht.

An Waffen besaß die Kompanie zwei Karabiner, pro Person vier Handgranaten und eine große Anzahl Panzerfäuste. Fahrräder hatten wir von zu Hause mitgenommen.

Unsere Schützenlöcher befanden sich an der Wendel gegenüber von Mühlenbau. Wer diese und die die Gegend durchziehenden Schützengräben ausgehoben hatte, weiß ich nicht. Im Gebiet der Kreuzstraße waren  indische Kriegsgefangene hierfür eingesetzt.

Unser Kampfauftrag lautete: Verhindern des Übersetzens amerikanischer Schwimmpanzer. Für Übungszwecke wurde von irgend einem Schrottplatz ein alter französischer Panzer auf die Elbwiesen geschleppt. Hier übten wir das Schießen mit Panzerfäusten. Ich durfte anfangen und schoss den Panzer mit dem ersten Schuss in Brand. Dafür bekam ich von Tamm 2 Zigaretten. Ich war Nichtraucher.

Viele Jahre später berichteten "Zeitzeugen" in der Zeitung von auf den Elbwiesen ab­ge­schos­senen "Feindpanzern".

Da wir keinen durchgehenden Dienst hatten, konnten wir zwischendurch immer mal nach Hause fahren. Dabei konnte ich beobachten, dass halb verhungerte Frauen vom KZ (Arado) von den am Faulen Bach entlang liegenden Wiesen Rasen abstechen, und zum Schützen­graben an der Triftstraße tragen mussten. Damit sollte der Schützengraben getarnt werden.

Die Frauen bestanden nur noch aus Haut und Knochen.

Mitte April wurde in den Wohnhäusern der Dresdener Str. 23/24 eine Luftwaffeneinheit einquartiert. Von dieser erhielten wir dann Uniformen. Wir wunderten uns nur darüber, dass sie 200 m hinter uns ihre Stellungen in Richtung Osten ausbauten.

Wir sollten gegen die Amerikaner und sie gegen die Russen kämpfen. Ich glaube es war eine geschichtlich einmalige Situation, dass die Ost- und Westfront mit dem Rücken so dicht zusammengerückt waren. Wir lagen mit dem Rücken nur 100 Meter auseinander.

Am späteren Nachmittag des 16. April, Heinz und ich hatten frei, griff ein Bomberverband Witten­berg an. Über der Stadt sahen wir starke Rauchwolken aufsteigen. Wir griffen unsere Fahrräder und fuhren von Arado durch die Kirchhofstraße in Richtung Bahnhof bis zum letzten Haus der Nr. 9 Andreas. Wir sahen, dass der Bahnhof brannte. Zwischen dem Haus Andreas und dem Bahnhof befand sich eine 8,8-Batterie in Feuerstellung.

Während wir noch den brennenden Bahnhof beobachteten, hörten wir vom Süden wieder starkes Flakfeuer.

Wie wir später sahen, stand 1o,5cm- Eisenbahnflak in Trebitz, eine Batterie 1o.5cm-Flak bei Selbitz, eine 8,8-Batterie am Ortsrand von Eutzsch und zwei 8,8-Großbatterien und 2cm-Vierlingsflak östlich der Straße zwischen Pratau und Eutzsch.

 

Über dem Friedhof erschienen Bomberverbände im Anflug auf den Bahnhof. Die Flak schoss sehr gut und die ersten drei Maschinen flogen ohne Bomben auf den Bahnhof zu werfen, brennend ab. Sie zogen eine Rechtskurve und lösten ihre Bomben im Notwurf zwischen Friedrichstadt und der Lerchenbergsiedlung. Dabei wurden u. a. die Häuser von Knape, Guseck und Michael beschädigt.

Als die nachfolgenden Maschinen ihre Bomben in den Bahnhof abluden, suchten wir schleunigst das Weite. Wir sahen noch, dass aus der bei Mühlanger abgestürzten Maschine eine Person mit dem Fallschirm abspringenden konnte.

Zu dieser Zeit war die Wut auf die amerikanischen Flieger so groß, dass man sie hätte umbringen mögen.

 

Am Abend war ich noch einmal kurz zu Hause, um zu sehen ob alles in Ordnung war. Etwa 60 m vorm Haus war in Rabachs Blumengarten ein Trichter. Offensichtlich war dort ein Flakblindgänger explodiert. Über dem Bahnhof und der Stadt standen Rauchwolken. vorbeikommende Personen sagten uns das die "Filmburg" brennt.

Nach Ermittlungen des Heimatvereines soll die "Filmburg" erst am 20. April getroffen wor­den sein. Dem kann ich aus folgenden Gründen nicht zustimmen:

1.  Nach dem 16. April war ich erstmalig wieder am Morgen des 23.April zu Hause

2.  Eine Frau die mit ihren Eltern zu dieser Zeit die Fischbratküche bewirtschaftet hat, gibt in einen Bericht bei Pflug e.V. an, am 16.4. bis zum Luftangriff bedient zu haben. Da das Haus stark beschädigt worden war, hat man am nächsten Tag nur noch die Fenster vernagelt und die Fischküche gab es nicht mehr. Die Fischküche stand nur wenige Häuser neben der "Filmburg" und

3.  Der Heimatverein hat eine Fotografie von den Trichtern des Bombenteppichs die zeigt, wie die Bomben vom Gesundheitsamt über die Collegien- und Mittelstraße zur Filmburg gezogen sind. Das beweist, dass die Anflugrichtung anders als am 20. April war.

 

Der schwerste Angriff auf Wittenberg erfolgte am Spätnachmittag des 20. April, Hitlers Geburtstag. Tagsüber zogen bei strahlend blauem Himmel zahlreiche Bomberpulks, ohne von einer Abwehr belästigt zu werden in Richtung Osten. Von den jetzt nach über 50 Jahren bekannt gewordenen Berichten über eine angeblich starke Tieffliegertätigkeit an diesem Tage haben wir nichts bemerkt.

Am Nachmittag, Heinz und ich hatten Wache und saßen auf dem Rand unseres Schützen­loches, als plötzlich ein Bomberverband vom Süden, etwa aus der Richtung Globig direkt auf uns zu geflogen kam. Mein erster Gedanke war: "Jetzt gibt es Bomben". Als die ersten Flug­zeuge etwa schräg über der Probstei waren, erkannten wir unter ihrem Rumpf ein schwarzes Rechteck. Die Bombenschächte waren aufgegangen. Aus der Führermaschine kam eine Leuchtkugel und fast gleichzeitig kamen aus jedem Flugzeug vier Bomben. Sie zogen genau über uns hinweg. Dieser Teppich begann in den damaligen Wiesen gegenüber der jetzigen Tankstelle Neubert und zog sich bis zu den beiden Bahnbrücken hin. Die vorletzte Bombe lag etwa 15 m östlich der Falkenberger Brücke und 5 m neben dem Gleis in der Böschung und die letzte 10 m östlich der Berliner Brücke und ebenfalls neben dem Gleis in der Böschung.

Auf dem Rangierberg waren kurz vor der Falkenberger Brücke vier Waggons mit Munition und Handgranaten abgestellt. Diese waren in Brand geraten. Wir hörten das Rattern der explodierenden Gewehrmunition. Dann gab es einen mächtigen Knall und es war ruhig. Alles war in die Luft geflogen.

In der Zwischenzeit ging aber der Angriff weiter. Die zweite Welle flog etwas weiter westlich an. Ihr Bombenteppich begann schon am südlichen Elbufer, zog sich durch die Elbe in Richtung Luthereiche und zerstörte das Schützenhaus. Es folgten noch eine dritte und eine vierte Welle. Eine begann im Alten Friedhof und ging über die Dresdener Straße in den Bahnhof. Dabei wurde die sich in der Elsterstraße befindliche Molkerei vollkommen zerstört.

Die andere Welle begann neben dem Bahnhof, (östlich der Elsterstraße) zerstörte die beiden Gehöfte Scheer und Kirchner, ging durch das Bahnhofsgelände, beschädigte die Landwirtschaft von R. Höhne in der Gaststraße, das Wohnhaus Giersch in der Triftstraße und zerstörte in der Großen Friedrichstraße die Nummer 93 und das Haus von Richter völlig. Die letzte Bombe lag neben der Kleinen Friedrichstraße vorm Wohnhaus meiner Schwester - (R. Lorenz. Die Bewohner der Gehöfte Scheer und Kirchner kamen fast alle ums Leben.

 

Hier befanden sich die Gleisanlagen des damaligen Güterbahnhofes. Alles war von den Bomben völlig umgewühlt. Eisenbahnwaggons mit Geschützen, Kesselwagen und die zerrissenen Schienen bildeten ein einziges Durcheinander.

Am Sonnabend den 21.4. gab es abends gegen 23 Uhr Alarm. D i e R u s s e n  k o m m e n !

Wir stürzten mit unseren Panzerfäusten auf die Straße. Damals standen vor Arado noch dicke Kastanien. Es war eine helle Mondnacht. Auf der Straße kamen aber keine Russen, sie konnten auch nicht, denn die Straße war voll von zurückflutender Wehrmacht. Mit Munition und modernsten Waffen türmten sie im Sturmschritt in Richtung Westen, und wir sollten mit unseren paar Panzerfäusten die Russen aufhalten!!! Wir sahen uns das eine halbe Stunde an und gingen wieder in unseren Keller. Die moralische Wirkung auf uns war ungeheuer.

 

In diesen Tagen wurde in den Häusern an der Ecke Trift- und Dresdener Straße eine Flakeinheit ein quartiert. Von diesen bekamen wir Uniformen.

Diese Einheit baute ihre Stellungen an der Straße zum Lug gegenüber des Grundstückes Weber in östlicher Richtung.

 An dieser Stelle möchte ich etwas einmaliges einfügen.

Sie bildeten damit in Wittenberg eine Ostfront, während wir ca. 150m weiter westlich die Wittenberger Westfront bildeten.

 

Am Sonntag den 22. bekamen wir den Befehl uns nach Pratau abzusetzen. Diesmal lautete der Kampfauftrag: Kampf gegen russische Schwimmpanzer!

Aus der Richtung Dessau—Bitterfeld hörten wir immer noch den Geschützdonner von der Westfront.

In Pratau wurden wir im Freischütz einquartiert. Hier bekamen wir auch Karabiner. Ich erhielt einen Karabiner mit Zielfernrohr.

Am Montag, den 23. bekamen Heinz und ich noch mal einen Urlaubsschein bis 11 Uhr, um noch einmal nach Hause zu fahren. Wir saßen in der Küche beim Frühstück, als Punkt 9 Uhr der russische Beschuss begann. Die Russen waren von Jessen kommend bis Arado vor­ge­drungen und hatten sich in den dort reichlich vorhandenen Splitterschutzgräben festgesetzt. Als  eine kurze Feuerpause eingetreten war fuhren wir wieder nach Pratau. Am Paul-Gerhardt-Stift mussten wir noch einmal in Deckung gehen. Auf der Elbbrücke steckte der Blindgänger einer russischen Granatwerfergranate in der Mitte der Fahrbahn.

Am Nachmittag wurden wir - Heinz und ich - dem Stab der Division "Ulrich von Hutten" als Melder zugeteilt. Der Divisionsstab befand sich im Gutshaus Bernd.

In der Nacht schickte man uns auf Spähtrupp. Wir sollten erkunden, ob der Russe zur Probstei übergesetzt sei.

Die Vierlingsflak der Eutzscher Batterien schoss laufend mit Leuchtspur in den Wald. Wir gingen auf der Dabruner Str. etwa bis zur Pumpstation. Dort lag am Damm der letzte deutsche Posten. Wir unterhielten uns mit ihm und stellten dabei fest, dass wir nicht einmal die Parole kannten und kehrten wieder um.

Wir hatten jetzt vor uns Russen und hinter uns Amerikaner, und doch haben wir am Dienstag den 24.4. wieder an den Sieg geglaubt. Der Geschützdonner im Westen war verstummt und den ganzen Tag über kamen Wehrmachtsverbände der verschiedensten Waffengattungen aus Richtung Radis und zogen weiter in Richtung Wittenberg. Sie verbreiteten die Nachricht: "Waffen­stillstand mit dem Amerikaner, gemeinsam mit den Amerikanern hauen wir die Russen raus". Da der Kampflärm im Westen verstummt war, glaubten wir es.

Das Wetter war gut und da wir Kompass und Kreiskarte mithatten, versuchten wir vom Elbdamm aus zu ermitteln, aus welchen Orten die in der Ferne aufsteigenden Rauchwolken kommen könnten.

Die südlich der Elbe liegenden Flakbatterien beschossen das Gelände von Arado bis Mühl­anger. Da sie nur mit Brennzündern schossen, fanden wir im Sommer auf den Feldern und Elbwiesen noch eine ganze Anzahl Blindgänger. Man konnte vom Elbdamm zum Teil auch Abschüsse der russischen Artillerie aus der Richtung Antoniusmühle beobachten.

Am Dienstag Nachmittag lag ich am Ortsausgang am Damm, als ich den Einschlag der Granaten einer Stalinorgel beobachten konnte. Die Einschläge verliefen von NO nach SW über die Elbwiesen. Kurz danach kam eine weitere Salve, aber von N nach S. Diese begann etwa bei Bude 100 und verteilte sich bis Pratau. Die letzte Granate ging noch über den Elbdamm und verletzte zwei Soldaten tödlich. Sie wurden am nächsten Tage auf dem Pratauer Friedhof begraben.

Ab Mittwoch den 25.4. bekamen wir am Nachmittag den Absetzbefehl und fuhren noch bis Kemberg. Bei den Eutzscher Flakstellungen traf ich noch einen Schulfreund der als Luftwaffenhelfer bei den Trajuhner Flakbatterien eingesetzt war. Sie hatten ihre Geschütze gesprengt und waren getürmt.

In der Scheune einer verlassenen kleinen Kemberger Landwirtschaft wurden wir einquartiert. Dort wurde auch ein Schwein geschlachtet. Am nächsten Morgen fassten wir Verpflegung aus einem in einer dortigen Schule untergebrachten Verpflegungslager. Dazu gehörte auch für jeden eine Feldflasche Schnaps.

 

Dann kam der Befehl: "Karabiner bleiben hier, wir fahren nach Gräfenhainichen und gehen in amerikanische Gefangenschaft". Mein Zielfernrohr habe ich abgemacht und mitgenommen. Wir haben es heute noch. Mit dem Tornister auf dem Fahrrad fuhren wir zum Ochsenkopf und von dort nach Strohwalde, bis kurz vor Gräfenhainichen. Da die Straßen alle von Flüchtlingen verstopft waren, wurde die Kompanie völlig auseinander gerissen. Nur Heinz und ich hielten uns zusammen.

Während die Amerikaner am Ortseingang von Gräfenhainichen die Landser entwaffneten und gefangen nahmen, setzten wir uns an der Strohwalder Ecke erst einmal in den Chaussee­graben, um zu frühstücken. Die noch im Tornister befindlichen Patronen warfen wir weg.

Zum Frühstück tranken wir unseren Schnaps, fühlten uns stark und beschlossen noch nicht in Gefangenschaft zu gehen. Wir fuhren zurück über Radis nach Schleesen.

Meine Schwester hatte dort eine Freundin von der Winterschule die früher schon des öfteren bei uns übernachtet hatte. Dort kamen wir gegen Mittag an und konnten gleich mit Mittagessen.

Zu dieser Zeit fuhren die Amis schon durch das Dorf. Wir hatten noch unsere Uniformen an und die Handgranaten im Tornister. Als die Luft rein war, gingen wir durch den Garten in den angrenzenden Wald und verbuddelten die Handgranaten in einem Karnickelloch. Dort liegen sie sicher noch als "Altlasten".

Dann wollten wir auf der Straße ins Dorf zurück. Am Ortseingang stand an der linken Straßenseite ein bärtiger Opa. Er sagte zu uns: "Jungens macht das ihr wegkommt, die

Amerikaner sind im Dorf und nehmen alles mit, was eine Uniform an hat". Daraufhin gingen wir wieder hintenrum durch den Garten, bekamen Zivilklamotten, zogen uns um und steckten die Uniformen in einen Sack, den wir hinter Dreschmaschine in der Spreu versteckten. Kaum waren wir umgezogen und saßen in der Küche, als ein Amerikaner ins Haus kam und nach Soldaten suchte. Er hatte ein rundes Gesicht mit Sommersprossen und einen leicht roten Igelschnitt. Er hatte ein kurzärmliges Hemd an, und wir konnten die auf beiden Armen befindlichen geklauten Armbanduhren sehen.

Als Ausweis zeigte ich meinen Führerschein vor. An seinem Gesicht konnte man sehen, dass er mir nicht glaubte. Trotzdem ließ er uns laufen.

Unsere Schlafstelle war der Heuboden. Am Tage beteiligten wir uns bei der Waldarbeit. Dabei fand ich ein unter Zweigen verstecktes russisches Funkgerät. Hier waren also schon vorher Agenten tätig.

Am Morgen des 4.5. wurden wir durch großen Lärm geweckt. Die Russen waren da. Auch diese gingen wieder von Haus zu Haus und suchten nach deutschen Soldaten.

Der in unser Haus kam, war vielleicht 18-20 Jahre alt und sprach gut deutsch. Ich zeigte ihn wieder meinen Führerschein. Er wollte mir nicht glauben, dass ich kein Soldat bin. Erst auf den Einwand eines anderen Mitbewohners, dass unsere Wohnungen in Wittenberg durch Bomben zerstört seien, ließ er uns laufen.

Da die Russen nun auch in Schleesen waren sagten wir uns, dann können wir auch wieder nach Wittenberg fahren. Dass die Elbbrücke gesprengt war, hatten wir mitgekriegt. Es wurde erzählt, in Coswig ginge die Fähre.

 

Am Morgen des 5.5. fuhren wir durch die Dörfer in Richtung Coswig. Auf den Elbwiesen lagerten viele Flüchtlinge, die Fähre war nicht in Betrieb. Auch von einem russischen Übergang war nichts zu sehen. Wo die Russen über die Elbe gekommen sind, weiß ich nicht.

Es wurde aber erzählt, bei Apollens­dorf würde ein Fischer mit seinem Kahn Personen übersetzen. Wir zogen also elbaufwärts, fanden den Fischer und wurden übergesetzt. Gegen 13 Uhr 30 war ich am 5.Mai zu Hause.

Um das zu Hause vorgefundene zu begreifen, muss ich noch einmal zurückblenden.

Ich hatte bei Beginn des russischen Angriffs das Haus am 23.4. gegen ½ 10 Uhr verlassen. Auf der Linie Arado-Flakkaserne-Mailandsberg wurde von Montag bis Donnerstag Mittag gekämpft. In unserem Garten, den umliegenden Feldern und in Friedrichstadt waren unzählige Einschläge von Granatwerfern und Stalinorgeln zu finden. Dazu kamen sehr große Schäden, welche die Explosion der Munitionswaggons am 20.4. hervorgerufen hatten. Da kein Tor mehr vorhanden war, konnte man bei uns ungehindert ein- und ausgehen.

Am 26. gegen 13 Uhr, meine Eltern waren beim Mittagessen, schlug eine Granat­werfer­granate in das Kuhstalldach. Alles begab sich sofort in den Keller und innerhalb weniger Minuten erhielt das Haus noch 12 Volltreffer durch Pakgranaten. Um ½ 2 Uhr waren die Russen im Haus. Wie unsere russisch sprechende Umsiedlerin erfuhr, hatten die Russen am Gehöft deutsche Soldaten gesehen und wollten es in Brand schießen. Zum Glück brannte es nicht.

Man kann heute noch die z. T. notdürftig reparierten Sparren im Dach des Stallgebäudes erkennen.

Bis zum 4.5. war diese Pakbatterie und noch eine Batterie schwerer Artillerie (insgesamt ca. 70 Mann) in unserem Gehöft einquartiert. 2 der Pakgeschütze waren vor der Haustür, 2 unterhalb der ehemaligen Tabaktrockenanlage und die schwere Artillerie war hinterm Haus in Stellung gegangen. Sie sind aber nicht mehr zum Einsatz gekommen.

Am 4.5. zogen sie wieder ab.

 Elena unser Russenmädchen und mehrere der lettischen Luftwaffenhelferinnen, die bei uns Unterkunft gesucht hatten, musste uns auch verlassen. Wir haben von ihnen nie wieder etwas gehört. Alle im Haus anwesenden Frauen wurden von den Russen vergewaltigt.

Wir saßen am 6. Mai früh in der Küche, als ein Russe auf den Hof geritten kam. In der Scheune suchte er Hafer für sein Pferd. Da er nichts fand zog er bald wieder ab.

Kaum war er weg. stand ein Junge in OT-Uniform (OT=Organisation Todt) vorm Küchen­fenster. Er wollte Zivilsachen und etwas zum Essen. Wir versorgten ihn und wollten ihn aus Angst vor Russen schnell wieder loswerden. Er drückte sich aber noch hinterm Haus rum. Auf meine Frage, warum er nicht weiter zieht sagte er, es währen noch Kameraden in der Scheune. Als ich mit der Leiter auf den Strohboden stieg blieb mir fast die Luft weg. Im Stroh schliefen 5 Soldaten der SS-Division "Wiking" mit Ärmelstreifen, Orden-und Ehrenzeichen und voller Bewaffnung. !!!

 

 Wenn da der Russe raufgeguckt hätte? Wir machten sie wach, gaben ihnen soweit noch vorhanden Zivilkleidung und verbrachten sie in die hinterm Haus befindliche Kiesgrube. Wir kochten einen großen Topf Kartoffeln, den ich ihnen noch hinter brachte. Sie wollten Richtung Magdeburg. Am nächsten Morgen waren sie verschwunden.

Da wir die Frühjahrsbestellung schon vorm Zusammenbruch erledigt hatten, konnten wir uns intensiv mit der Beseitigung der Kriegsschäden beschäftigen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch unsere Pferde. Da sie beim Beschuss unseres Hauses zum Teil sehr stark verletzt waren - die "Resi" hatte in der rechten Seite über 30 kleine Splitterwunden, hatten sie die Russen nicht mitgenommen.

Als ich nach Hause kam, war in Friedrichstadt schon ein "Ordnungsdienst" aufgebaut worden. Er bestand aus alten Kommunisten, die sich ehrlich bemühten die Ordnung wieder her­zu­stellen. Ich denke dabei besonders an Karl Bartholomäus, Hermann Steinkopf, Ernst Butze, Heinrich Schröter und noch andere. Sie organisierten, dass wir fast täglich mit unserem Ge­spann zum Aradowerk fuhren, um jede Menge Alubleche zu holen, damit die Fried­rich­städter wieder ihre Dächer einigermaßen dicht machen konnten. Auch Mauersteine und viel anderes Reparaturmaterial holten wir von dort.

Dabei lernte ich aber auch eine andere Sorte von Menschen kennen. Auf einer Straße im Arado-Werk stand eine fahrbare Wasserknecht-Kolbenpumpe. Es war einer in der Truppe der ausrief: "Schlagt die Pumpe kaputt, die haben die Nazis gebaut," und das zu einem Zeitpunkt, wo es allen darum ging die Kriegsschäden zu beseitigen.

In Arado wurden zum Kriegsende Rümpfe für Düsenjäger gebaut. Die noch im Werk vorhandenen Flugzeugrümpfe waren mit Panzerfäusten zerstört worden.

Nebenbei wurde auch die Umgegend erkundet. Man wollte ja sehen, was in den letzten Wochen noch so alles passiert war. Tote Menschen habe ich nur zwei gesehen. Es war das Ehepaar Antoniussohn aus der Kirchhofstraße. Sie lagen nebeneinander in der Triftstraße vorm Hoftor des jetzigen Grundstücks Fleischer. Sie sollen von den bei ihnen arbeitenden Kriegsgefangenen erschossen worden sein.

Der Wasserturm vom Bahnbetriebswerk Labetz wies zahlreiche Pakeinschüsse auf. Sicher hatte man dort einen deutschen Beobachtungsposten vermutet.

Auf dem Turm war von der Wehrmacht eine Hakenkreuzfahne gehisst worden. Diese war von den Granatsplittern zerfetzt und nur ein Stück rotes Tuch hing noch am Mast. Da es nun eine rote Fahne geworden war, hing sie noch lange, weit sichtbar, auf dem Turm.

 

Das Sägewerk Graf und der Dachstuhl der Elstervorstadtschule waren abgebrannt. Die Triftstraßenbrücke über die Bahnanlagen war bei den Kampfhandlungen ebenfalls zerstört worden. Ich weiß nicht, ob durch Sprengung oder Beschuss. Die Bombenangriffe hatten ihr nicht geschadet.

Auf dem Euperschen Weg stand neben der Flakkaserne ein abgeschossener deutscher Jagd­panzer 38. 100 m rechts davon, in Richtung Grunewald, lagen zwei oder drei abgeschossene russische gepanzerte Halbkettenfahrzeuge amerikanischer Bauart. Hier sah ich zum ersten mal Schützenpanzer.

Die Geschütze der Trajuhnschen Flakbatterien waren gesprengt. Ich baute mir noch drei Motore ab, die ich später in der eigenen Landwirtschaft verwendete.

Auf der B2 standen vor Karlsfeld ein und vor Köpnik zwei deutsche Jagdpanzer 38 in Fahrtrichtung Wittenberg. Man konnte an ihnen keine Schäden erkennen, offensichtlich waren sie wegen Brennstoffmangel stehen gelassen worden.

Auf der Straße von Kropstädt nach Wergzahna war eine Panzersperre. Vor dieser lagen mehrere abgeschossene russische Halbkettenfahrzeuge. Wahrscheinlich waren sie vom Volks­sturm abgeschossen worden und ich vermute, dass die in Kropstädt erfolgte Massen­er­schie­ßung damit im Zusammenhang steht.

Jetzt, 50 Jahre später, berichteten Zeitzeugen von vielen russischen Panzern. Vielleicht ver­wechselten diese Leute die Halbkettenfahrzeuge mit Panzer. Es erscheint mir un­wahr­schein­lich,

 

 dass nach 3 Tagen schwerer Kämpfe weder deutsche noch russische abgeschossene Panzer vorhanden waren.

Auf der ganzen Linie von der Elbe bis zur Flak sah ich weder deutsche noch russische Soldatengräber. Von den Russen weiß ich aber, dass sie ihre Toten in Mühlanger auf dem Platz rechts vom Gemeindebüro begraben hatten. Später wurden sie auf den Casinoberg umgebettet. Dort habe ich etwa 350 Gräber gezählt. Es ist aber nicht klar, ob diese Russen alle im Kampf um Wittenberg gefallen sind. Ich nehme an, dass sie auch die in der Umgegend (Straach) gefallenen Soldaten nach Wittenberg zusammengezogen haben.

Im Raum Trajuhn gab es verschiedene Gräber deutscher Soldaten. Diese wurden nicht umgebettet. Ein Teil der Gräber wurde viele Jahre liebevoll gepflegt, doch jetzt sind sie nicht mehr erkennbar. Vier Gräber befanden sich an der verlängerten Schulstraße, ein Stück vor der Nordendstraße. Sie wurden von russischen Zivilarbeitern dem Erdboden gleich gemacht.

Ein am Weg von Trajuhn nach Euper liegendes Grab wurde von russischen Panzern plattgewalzt. Je ein Grab kannte ich noch im Moosgrund und an der B 2.

 

Am Waldweg vom Mailandsberg nach Euper befand sich ein größeres Grab mit etwa 8 deutschen Soldaten. Dieses Grab wurde beim Bau der Ferngasleitung verschüttet. Gegenüber des Kleinwittenberger Hafens wurde auch noch viele Jahre ein Soldatengrab gepflegt.

Mein Onkel August, der in der Specke wohnte, erzählte mir, dass er hinterm Haus einen russischen Soldaten begraben hat. Dieser muss noch dort liegen.

Wie viel deutsche Soldaten auf dem Wittenberger Friedhof begraben sind, ist mir nicht bekannt.

 



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