Das Wittenberger Neubaugebiet

Nach dem Kriegsende war auch in Wittenberg der Wohnraum knapp geworden. Zwar hatte die Stadt durch den Krieg wenig gelitten, so waren doch aber viele aus dem Osten vertriebene Familien einquartiert worden. Viele Personen wohnten auf kleinem Raum.
Das Wohnungsamt war eins der wichtigsten Ämter. Nur mit Genehmigung des Wohnungsamtes war es möglich, sich wohnungsmäßig zu verändern.
Ein privater Wohnungsneu- oder -Umbau war nur in ganz geringen Umfang möglich , denn Baumaterial war kaum zu bekommen. Wenn man keine Beziehungen hatte, brauchte man gar nicht erst anfangen.
Dafür ein Beispiel: Anfangs der 60er Jahre mussten wir unsere Scheune abbrechen, der Dachstuhls musste erneuert werden.
An Stelle der Scheune wollte ich nur einen Geflügelstall mit Pappdach bauen. Aus der Projektierung ergab sich eine Bausumme von ca. 30 000 Mark. Ich stellte einen Bauantrag. Dieser wurde auch genehmigt, aber die einzige Materialzuteilung die ich erhielt, war eine Bezugsberechtigung für 500 kg Zement.
Anderen Leuten ging es ähnlich.
So war es dann ein Lichtblick, als um 1970 mit dem Bau des Wittenberger Neubaugebietes begonnen wurde.
Das ganze Baugeschehen war in vier Bauabschnitte eingeteilt.

Mit dem Bauabschnitt I wurde an der Berliner Straße begonnen.
Ihm folgte der II. Abschnitt zwischen der Sternstraße und dem Trajuhnschen Bach.
Der III. Abschnitt wurde westlich vom Trajuhnschen Bach, südlich von der Friedrich- und Florian-Geyer-Straße, östlich von der Karlstraße und nördlich von der Straße der Befreiung begrenzt.
Der IV. Bauabschnitt wurde im Süden von der Annendorfer Straße, im Norden von der Dr. Behringstraße, im Westen von den Flächen des Jungfernwassers und im Osten von den östlich Friedrichstadts gelegenen Ackerflächen begrenzt.
Der Ortsteil Friedrichstadt sollte ganz abgerissen werden. Als es soweit war, wurde aber der Weiterbau eingestellt. Ob es an Geld oder Material, vielleicht auch an beiden fehlte, weiß ich nicht.
Um diese Bauten zu beheizen, wurden an der Berliner Straße ein Braunkohleheizwerk, an der Annendorfer Straße (am Trajuhnschen Bach) ein kleines Ölheizwerk und an der Annendorfer Straße, östlich des Komplexes Lerchenbergstraße, ein großes Ölheizwerk gebaut.
Da diese aber für das gesamte geplante Baugeschehen nicht ausreichten, wurde in der Elstervorstadt zwischen der Elsterstraße und dem Gotenweg mit dem Bau eines großen Kohleheizwerkes begonnen.
Der Bau ist aber schon im Anfangsstadium stecken geblieben.
Das Gelände westlich der Berliner Str. und das zwischen der Sternstraße und der Str. d. Befreiung, wurde überwiegend von Gemüsebauern bewirtschaftet.
Zahlreiche Häuser mussten abgerissen werden.
Die Bewohner dieser Häuser hatten Anspruch auf eine Neubauwohnung. Die meisten versuchten aber sich wieder ein Haus zu kaufen. Sie hatten im Kreisgebiet das Vorkaufsrecht für die aus den verschiedensten Gründen angebotenen Grundstücke. In solchen Fällen stand dann auch das gesamte Geld ihres Altgrundstückes zur Verfügung.
Die Häuser und der Boden wurde getaxt. Die Taxpreise entsprachen der damaligen Gesellschaftsordnung.
So bekamen wir zum Beispiel für in Anspruch genommene (praktisch enteignete ) Flächen 11 und 12 Pfennige je qm. Für 43 Obstbäume bekamen wir eine durchschnittliche Entschädigung von 23 Mark je Baum.
Für einen Zentner Äpfel musste man damals 40-50 Mark bezahlen.
Von diesen festgelegten Summen wurden aber jährlich nur 3000 Mark ausgezahlt. Der Rest kam auf ein Sperrkonto.

Der 1. Bauabschnitt
Ich habe in dieser Zeit als Hobbyfotograf versucht, verschiedenes vom damaligen Baugeschehen festzuhalten. Die Bilder folgen an anderer Stelle.
Die ersten in diesem Zusammenhang abgerissenen Häuser waren die Häuser von Engelmann, Prüfer und Straach an der Berliner Straße.

2. Bauabschnitt
Der II. Bauabschnitt betrifft das Gelände zwischen Sternstraße und dem Trajuhnschen Bach. Dieses war ein Gemüseanbaugebiet und eine Anzahl der dort befindlichen Wohnhäuser und Gärtnereien wurden abgerissen. (Schildhauer, Kreher, Lehmann usw.)
Beim Baubeginn stellte man fest, dass sich im Untergrund eine größere Moorlinse befand. Um feste Fundamente legen zu können, musste die ausgebaggert und abtransportiert werden.
Dieses Moor wurde rechts und links der Belziger Chaussee vorm Wasserwerk, auf die leichten Ackerflächen der GPG Convallaria verbracht. Dieses wirkte sich dort sehr positiv aus. Während vorher dort nur bedingt Roggen wuchs, konnte jetzt dort mit Beregnung Gemüse angebaut werden.

Der 3. Bauabschnitt
Mit dem III. Bauabschnitt kam das Baugeschehen nun auch nach Friedrichstadt. Hier mussten eine große Zahl von Einwohnern der Florian Geyerstraße, der Kreuzstraße und der Kleinen Friedrichstraße ihre Häuser verlassen.Textmarke: Abb13
Zwischenzeitlich fand in der Elsterstraße der erste Spatenstich für das geplante, doch nicht gebaute Kohleheizwerk statt.
3 Planierraupen schoben den Mutterboden ab, Klaus Koberling belud mit seinem Radlader die LKW und bei den Klängen einer Blaskapelle hielt der Vorsitzende des Rates des Kreises, Werner John, die Festrede. Textmarke: Abb23
Zu dieser Zeit begannen in der Annendorfer Straße beginnen die AbbrucharbeitenTextmarke: Abb19

Der 4. Bauabschnitt
Uns traf der IV. Bauabschnitt besonders. Nach den ersten Planungen sollten wir und mein Bruder unsere Häuser verlassen. Sie sollten aber nicht abgerissen werden, sonder von der Stadt als Stützpunkt für Gebäudewirtschaft eingerichtet werden.
In den nebenan stehenden LPG-Gebäuden sollte der Stützpunkt für Garten- und Landschaftsgestaltung angesiedelt werden.
Während wir als normale Bürger mit dem Taxpreis abgefunden werden sollten, verlangte die LPG als sozialistischer Betrieb für ihre Gebäude 2 Millionen Mark als Entschädigung. Da man staatlicherseits nicht bereit war eine so hohe Ablössumme zu zahlen, verzichtete man auf unsere Grundstücke.
Mein Bruder hatte auch Einspruch gegen den Ausweisungsbescheid erhoben.
Ich hatte mich schon nach einem Ersatzgrundstück umgesehen und ein solches in Elster gefunden und schon angezahlt.
Als wir den Bescheid erhielten in unserem Hause bleiben zu können, gaben wir das Grundstück in Elster an den Kollegen Rehfeld weiter, der in der Kreuzstraße sein Haus verlor.
Als erstes kam eine Truppe mit Karten, die über das ganze Gelände verteilt, nummerierte Pflöcke in die Erde schlugen. Anschließend kamen Bohrkolonnen, die mit ihren Bohrungen den Zustand des Untergrundes ermittelten. Dann rückten die Bohrkolonnen an.
Wir konnten beobachten, dass in unserem Garten nicht an allen vorgegebenen Punkten gebohrt wurde. Später konnte ich feststellen, dass auf den Karten der Baufachleute trotzdem gebohrte Meterzahlen eingetragen waren.
Dieses sollte nicht ohne Folgenbleiben.
Im Rahmen der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder wurde das Wittenberger Bauobjekt in Bulgarien projektiert. ort konnte man sich nicht vorstellen, dass die Bohrungen so große Schwankungen in der Höhe des Grundwasserspiegels ergeben hatten und ließen an der Straße Im Felde einen ca. 100m langen und 4m tiefen Schürfgraben anlegen.
Textmarke: Abb43
Aufwendige Schachtarbeiten erforderte der Bau des Hauptsammlers der Kanalisation, der bis zu Dr. Behring-Straße durchgezogen wurde.
WinterproblemeTextmarke: Abb68
Für einen Wohnblock war gerade die Grundplatte gegossen worden, als ein starker
Kälteeinbruch erfolgte.
Um Frostschäden zu verhindern, wurde der Beton mit Folie abgedeckt und mit Ölheizgeräten beheizt. Aber später wurden dann nur 4 Etagen montiert.
Um die Neubauten mit ausreichend Wärme versorgen zu können, wurde in unserem Garten noch ein drittes Heizwerk gebaut. Der Schornstein war 65 m hoch und kostete 65 000 Mark. Inzwischen ist es schon wieder abgerissen worden.
Zum 4. Bauabschnitt gehörte auch die Konsumkaufhalle "Am Lerchenberg". Wenn solch ein Prestigeobjekt eröffnet wurde, gab es dort an den ersten Tagen ein Warenangebot welches Seltenheitswert hatte. Schon Stunden vor der Eröffnung bildeten sich lange Käuferschlangen, in der Hoffnung irgendwelche Raritäten kaufen zu können. Auch unsere Kaufhalle machte da keine Ausnahme.
Als ich an diesem Tage diese Aufnahme machte war es schon Mittag. Die Schlange der Käufer war immer noch so lang, dass ich sie mit einer Aufnahme gar nicht erfassen konnte, also machte ich zwei Fotos und klebte sie zusammen.

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